M. Gehler: From Saint-Germain to Lisbon

Cover
Titel
From Saint-Germain to Lisbon. Austria’s Long Road from Disintegrated to United Europe, 1919–2009


Autor(en)
Gehler, Michael
Reihe
Internationale Geschichte (5)
Erschienen
Wien 2020: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Anzahl Seiten
1287 S.
von
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Dieses im doppelten, inhaltlichen wie äusserlichen Sinn Opus Magnum verfolgt den Verlauf von Österreichs Stellung in Europa während neun Jahrzehnten. Es ist, bezogen auf den Vorortsvertrag von Saint-Germain, eine Art Jubiläumsbuch, liegt nun aber in einer erweiterten und ins Englische übersetzten Version vor, ist also der weltweiten scientific community zugänglich. Die vielen Quellenbelege sind in ihren Originalformulierungen im Fussnotenteil zugänglich geblieben. Die synthetisierende Grossdarstellung beruht auf einem reichen Fundus eingearbeiteter Sekundärliteratur und einer Vielzahl von Primärquellen (sowohl Aktenmaterial wie auch mündlicher Erläuterungen von Zeitgenossen). Als Schlüsselwerk ermöglicht sie einen schnellen Zugang zur benutzten Spezialliteratur. Eine breit angelegte Chronologie von gegen 30 Seiten macht eine schnelle Orientierung möglich. 100 im Anhang integral publizierte Dokument ergänzen das Werk, und gegen 200 auf den ganzen Text verteilte Abbildungen vermitteln auch Eindrücke der visuellen Dimension dieser Geschichte. Selbstverständlich befindet sich unter ihnen auch das bekannte Bild vom Zerschneiden des «Eisernen Vorhangs» an der ungarisch-österreichischen Grenze vom 27. Juni 1989.

Für wen ist dieses Buch? Auf den ersten Blick scheint es vor allem eine Darstellung für die österreichische Leserschaft zu sein. Mit seiner eingehenden Kontextualisierung der österreichischen Geschichte bietet es jedoch nicht nur diesem Publikum Ausblicke auf relevante Rahmenbedingungen, es zeigt auch, wie sich andere Staaten verhalten und wie das internationale System in bestimmten Momenten reagiert. Ein gutes Exempel dafür sind die Reaktionen der 14 EU-Mitglieder auf die Regierungsbeteiligung der rechtsnationalen FPÖ im Jahr 2000. Gehler kann die Vorstellung korrigieren, dass das nur eine Strafaktion der Sozialistischen Internationale gewesen sei. Auch der Neogaullist Jacques Chirac befürwortete Sanktionen, dies gegen die Auffassung seines Aussenministeriums. Dieser Fall warf die grundsätzliche Frage auf, in welchem Mass sich die EU in die inneren Angelegenheiten ihrer Mitglieder einmischen darf oder soll. Hier wie an anderen Stellen taucht auch die Schweiz auf. Bundesrat Deiss erklärte, Österreich solle nach seinen konkreten Haltungen und nicht nach Vorurteilen beurteilt werden (S. 764). Vor allem aus kleinstaatlichem Reflex verurteilte die Schweiz die kollektive Quarantäne-Setzung ihres Nachbarn. Und aus österreichischer Sicht wird bemerkt, dass sich die EU-Runde gegenüber einem Grossen, Frankreich zum Beispiel, solche Massregelungen nie gestatten würde.

Dem Werk liegt das implizite Narrativ zugrunde, dass sich Österreich tendenziell stets stärker nach dem Westen orientierte, obwohl es von diesem (Stichwort: Frankreich) wenigstens teilweise zurückgewiesen wurde. Gewiss war für Österreich auch die Ostpolitik stets wichtig (Stichwort: Brückenfunktion), und eine besondere Wichtigkeit hatten die Beziehungen zur Bundesrepublik (Stichwort: die zwei deutschen Staaten). Dem Versuch, mit dem Mitteleuropa-Modell wieder ein eigenes europäisches Zentrum zu werden, war kein Erfolg beschieden. Phasenweise waren wegen der Südtirol-Frage auch die Beziehungen zu Italien schwierig. Selbst dem mit der Geschichte der europäischen Integration vertrauten Leser könnte neu sein, dass Österreich lange vor seinem «frühen» Beitrittsgesuch vom Juli 1989 die Nähe zum organisierten Westlager gesucht hatte, dass es am Marshallplan teilhaben wollte als auch konnte und schliesslich, dass es gerne zur Montan-Union gehört hätte. Der «Anschluss»-Begriff war nicht derart kontaminiert, dass Politiker nicht in durchaus positivem Sinn von einem «EWG-Anschluss» sprechen konnten. Diese Beziehungen waren zu Beginn der 1950er Jahre wichtiger als die Erlangung der Eigenstaatlichkeit im Jahr 1955. Bemerkenswert ist im Weiteren ein einschätzender Vergleich aus den 1980er Jahren zwischen EU und EFTA, der erstere vergleichsweise schnell, letztere als viel zu langsam einstuft (S. 536). Betont wird, dass Österreich gleichsam das europäischste Land der vier EFTA-Beitrittskandidaten war (mit seiner Disposition selbst zum «Alleingang» und mit dem Beitrittsgesuch bereits am 14. Juli 1989, Faksimile S. 586), darum mit seiner Abstimmung vom 12. Juni 1994 sozusagen vorgeschickt wurden (S. 694) und dann auch mit 66,6 Prozent Ja-Stimmen das beste Zustimmungsresultat erzielte.

Die Darlegungen machen deutlich, dass man, wie mehr oder weniger bei allen Staaten, nicht von homogenen und konsistenten Akteuren ausgehen sollte (was einfachheitshalber auch in der vorliegenden Besprechung getan worden ist). Wie in Deutschland wollten auch in Österreich die Sozialdemokraten gegenüber dem Gemeinschaftsprojekt lange auf Distanz bleiben. Der entscheidende Integrationsschritt wurde dann von ÖVP und SPÖ in bemerkenswerter Übereinstimmung zustande gebracht – gegen die FPÖ und die Grünen. Im anschliessenden Unterzeichnungsritual zeigten sich im Befürwortungslager schnell wieder läppische Rivalitäten, so dass der Beitritt mit vier Unterschriften festgehalten werden musste. Der «Anschluss» an die EU hatte unter anderem den positiven Nebeneffekt, dass er die österreichische Verwaltung zwang, ihre interne Disparität in der elektronischen Kommunikation zu harmonisieren.

Dann und wann gibt es, wie im Fall der gegen Österreich eingeleiteten Sanktionen gezeigt, Seitenblicke auch auf die Schweiz – mit entsprechend weiterführenden Hinweisen.1 Aus Schweizer Sicht könnte man vor allem an der Frage interessiert sein, wie die österreichische Regierung im Verbund mit den Sozialpartnern, der Katholischen Kirche und den Medien (selbst der Kronen-Zeitung) den EU-Beitritt zustande gebracht, das Problem der Transitlawine gedämpft, das Neutralitätsproblem entschärft und die Nationalgeschichte, die freilich eine andere war, zu einem Beitrittsargument gemacht hat.

Im Fazit der umfangreichen, hier nicht vollständig rekapitulierbaren Schlussfolgerungen bezeichnet es Gehler als verständliches Paradox, dass die Integration die Renationalisierung der österreichischen Gesellschaft gefördert habe. Aber er sieht auch Alan S. Milwards «hammer thesis» in modifizierter Form bestätigt, dass die EU ihre nationalen Mitglieder in der Ära der Globalisierung in offenbar anerkennenswerter Weise gestärkt habe.2 Michael Gehlers Gesamtsicht erfüllt in vorbildlicher Weise, was ein Desiderat auch für manch andere europäische Nationalgeschichte wäre: der Einbezug der innenpolitischen Machtverhältnisse in die Abklärungen dessen, was wann wie in der Integrationspolitik mit Konsequenzen für den gesamten Prozess ermöglicht oder blockiert wurde.

1 Etwa auf Christian Jenny, Konsensformel oder Vorbild? Die Entstehung der österreichischen Neutralität und ihr Schweizer Muster, Bern 1995 oder Thomas Schwendimann, Herausforderung Europa. Integrationspolitische Debatten in Österreich und in der Schweiz, 1985–1989, Bern 1993. Ders., Wien drängt, Bern wartet ab. Unterschiedliche Integrationskonzepte Österreichs und der Schweiz 1985–1989, in: Michael Gehler, Rolf Steininger (Hg.), Österreich und die europäische Integration seit 1945, Wien 2014. S. 267–290.
2 Alan S. Milward, The European Rescue of the Nation State, London 1992.

Zitierweise:
Kreis, Gerog: Rezension zu: Gehler, Michael: From Saint-Germain to Lisbon. Austria’s Long Road from Disintegrated to United Europe, 1919–2009, Wien 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 203-205. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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